Achtung bei schnellen Konformitäts­versprechungen

Während mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) zum ersten Mal auf gesamteuropäischer Ebene zumindest Teile des „privaten Sektors“ zur Web-Barrierefreiheit verpflichtet werden, ist das für den Öffentlichen Sektor der EU schon länger der Fall – in Form der Richtlinie 2016/2102 und abgeleitenden Gesetzen für Bundesländer und natürlich den Bund selbst.

Allerdings kann man meiner Meinung nach nicht alle Erfahrungen aus diesem Sektor auf vom BFSG betroffene z. B. Online-Shop- oder Online-Banking-Betreibende umlegen, denn im Szenario „Was passiert, wenn man sich nicht an die gesetzlichen Vorgaben hält“ klafft ein gewaltiger Unterschied. Während sich Mitgliedsstaaten im Rahmen der Public-Sector-Richtlinie zwar dazu verpflichtet haben, den Zustand der digitalen Barrierefreiheit regelmäßig an die EU-Kommission zu melden, haben Verstöße gegen die Regeln scheinbar keine direkt einsehbare Wirkung im Sinne von Strafen für die Verantwortlichen, trotz einem in der Richtlinie zugestandenen Klageweg. Die Bundesrepublik Deutschland, zum Beispiel, kann es sich leisten, ein Statement wie „kein Webauftritt konnte (...) alle Anforderungen erfüllen“ nach Brüssel zu schicken. Auch der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Jürgen Dusel, beobachtet „dass die Gesetze [der Richtlinie] nicht oder nicht mit der Dringlichkeit [...], die ihnen gebührt“ umgesetzt werden (Mehr auf barrierekompass.de).

Die Einhaltung der Regeln zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) sollen allerdings Marktüberwachungsbehörden (der Bundesländer) kontrollieren 1 . Wenn sie Verletzungen der Regeln (im digitalen Bereich: z. B. der Europäischen Norm [EN] 301 549) feststellen, steht ihnen ein Instrumentenkasten zur Verfügung, der von Mahnung/Nachfrist über Strafzahlungen (bis zu EUR 100.000) bis hin zur Forderung nach Einstellung der Dienstleistung (z. B. eines Shops) 2 reichen kann.

Daraus entsteht natürlich ein deutlicher Handlungsdruck für bestimmte Betreibende im privaten Sektor zur Herstellung der Barrierefreiheit. Wenig überraschend öffnet das - wie auch beim Öffentlichen Sektor - einen Markt für Anbieter, die schnelle und billige Konformität mit technischen Barrierefreiheitsstandards wie WCAG oder EN 301 549 versprechen. Um es klar und deutlich zu sagen: eine Einbindung eines so genannten Overlays macht die zugrundeliegende Seite nicht konform. Das geht deswegen rein logisch nicht, weil man die einzelnen Prüfschritte, aus der beispielsweise die EN 301 549 besteht, häufig nicht maschinell verstehen, noch weniger maschinell erfüllen kann, egal, wie sehr Hype-Stichworte wie „Künstliche Intelligenz“ in den Marketingmaterialien fallen. Für einige Prüfschritte braucht es Kontext und menschliches Urteilsvermögen, die Algorithmen und Large Language Models aktuell nicht bereitstellen oder erkennen können, beispielsweise, wenn in einem Web Content Accessibility Guidelines-Prüfschritt nach der Aussagekraft von Überschriften oder Alternativtexten gefragt wird. Selbst die Kontrastbestimmung von z. B. Texten ist rein maschinell weder vollumfassend noch vollständig zweifelsfrei möglich. Weitere Beispiele und Argumente finden sich auf der englischsprachigen Seite overlayfactsheet.com.

Seitens der Anbieter*innen solcher Lösungen mit Konformitätsversprechungen kommt als Antwort auf diese Argumente häufig die Reaktion: „Manuell testende Barrierefreiheits-Leute argumentieren nur deswegen gegen unsere Overlayprodukte, weil sie ihre teuren, manuellen und eigenen Dienstleistungen verkaufen wollen“. Diese Argumentationslinie ist allein deswegen falsch, weil sich selbst Institutionen, gegen die sich keine Verschwörungserzählung spinnen lässt, die eben „keine eigenen Produkte verkaufen“ wollen, gegen Overlays mit falschen Versprechen positionieren:

  • Die Barrierefreiheits-Überwachungsststellen von Bund und Ländern kommen in einem gemeinsamen Statement zu dem Schluss „Aktuell sind Overlay-Tools nicht in der Lage, einen Webauftritt, der Barrieren aufweist, komplett barrierefrei darzustellen.“
  • Ebenso formuliert das „European Disability Forum“ in einem englischsprachigen Statement „to date none of these technologies [overlays] can instantly fix an inaccessible website.“ (also: "zum aktuellen Zeitpunkt kann keine dieser Technologien eine unzugängliche Seite im Handumdrehen reparieren").

Was Konformität mit Web-Barrierefreiheitsrichtlinien angeht, wurde also argumentativer Leim angerührt, der in Teilen mit Marketingversprechungen arbeitet, die nachweisbar falsch sind. Angesicht des Handlungsdrucks und der Reichweite des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes kann man fest davon ausgehen, dass einige Betroffene aus dem E-Commerce- und Bankenbereich an ihm kleben bleiben, weil ein Versprechen, die geforderte Konformität nur mit Einbindung eines bezahlbaren Skripts zu erreichen, wirklich zu verlockend ist.

Barrierefreiheit ist aber ein Thema, das auf Menschen und ihre Vielfalt Rücksicht nimmt und verbriefte Menschenrechte 3 umsetzt. Es ist nur zu Teilen ein technisches Thema und kann deswegen zum aktuellen Zeitpunkt auch nicht vollständig automatisiert „gelöst“ werden – unabhängig, ob jemand diese Versprechen ausgibt oder nicht. Stattdessen muss die Zugänglichkeit von digitalen Produkten nachhaltig und unter Einbeziehung von Menschen geschehen. Barrierefreiheitstestende und -beratende wie ich können deswegen keine überbordenden „Heilsversprechen“ machen, aber ihr Wissen um barrierefreie Herangehensweisen und Nutzungsmuster weitergeben. Und das ist etwas, was ich mit dem Projekt „E-Commerce Barrierefrei“ vorhabe.

Update 13.12.2023:

Claims that a website can be made fully compliant in an automated fashion are not realistic, since no tool can cover all of WCAG 2.1 level AA criteria. Auf deutsch in etwa: Behauptungen, dass eine Website auf automatisierte Weise vollständig konform gemacht werden kann, sind nicht realistisch, da kein Tool alle AA-Kriterien der WCAG 2.1-Stufe abdecken kann.

Die europäische Kommission hat sich sehr eindeutig zu Konformitätsversprechen von Overlays geäußert: Englisches Original, maschinelle, aber brauchbare Übersetzung auf deutsch. Außerdem hat die Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit in der IT eine Präsentatiom dazu abgehalten, die zum gleichen Schluss kommt.

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